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Sonntag, 10. Juli 2005 |
KÜNSTLER.ARCHIV
Neue Werke aus historischen Beständen
Wenn es stimmt, dass Archive das Gedächtnis der Menschheit darstellen, dann bilden die der Berliner AdK übereigneten Nachlässe eine mindestens 6 000 Regalmeter lange Erinnerungsstraße mit mehr als einer Million Dokumente zur Literatur, Dramatik, Musik, Architektur und Bildenden Kunst ab 1900. Allein 886 Einzelarchive berühmter Leute von Walter Benjamin und Bertolt Brecht zu Heinrich Mann und Heiner Müller füllen Kammern, Säle, Depots, Schränke.
Jochen Gerz hat darin inniglich gesucht und aus Gefundenem ein Stundenbuch mit 800 Briefen, Gedichten, Zeitungsartikeln, Parteigutachten, Verwaltungsdokumenten aus DDR-Zeit erstellt. Der Foliant mit intellektuellen wie bürokratischen Zeugnissen des untergegangenen Staates liegt auf dem Tisch. Daraus lesen im Zwei-Stunden-Wechsel Frauen und Männer, für die Zeit der Ausstellung sind es 320 Freiwillige. Man steht auf bunten Flicken, das Ganze bekommt so einen surrealen Touch, die zerbrochenen Utopien von "Anmut sparet nicht noch Mühe" (Brecht) wie die Funktionärsphrasen vom "Kampf gegen den Formalismus" hören sich an, als trage die Vorleserin etwas sehr Fernes, Komisches vor. Für Gerz ist das "Dienst an einer verlorenen Zeit", DDR-Geschichte ist für ihn "nicht zu den Akten gelegt, sondern hochempfindliches, aktuelles Thema".
Hans Winkler stellte eine Holzhütte im Akademieraum auf. Er fand im Archiv des Grafikers John Heartfield und dessen Bruder, dem Verleger Wieland Herzfelde, einen Brief. Darin heißt es: "Im Sommer 1898 verloren wir die Eltern". Der Satz belegt eine Tragödie, die für das Brüderpaar zum Albtraum geworden war: Der von der Polizei gesuchte Vater der Knaben, der Schriftsteller Franz Held und seine psychisch kranke Frau, hatten die Jungen in einer Berghütte nahe Salzburg allein zurückgelassen. Fremde Menschen mussten sich fortan um die verlassenen Kinder kümmern. In den Fünfzigern baute John Heartfield in seinem Waldsieversdorfer Garten eine ähnliche Hütte auf, ein Art hölzernes Bollwerk gegen das nie richtig verarbeitete Trauma. Hans Winkler erzählt das Drama a la Grimms "Hänsel und Gretel" noch einmal.
(Text aus: Berliner Zeitung, I. Ruthe hier)
10:33:16 AM
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