Die Zukunft des Sozialstaates - oder:
Der Sozialstaat ist nur in einer Sozialwelt zu retten
Der Sozialstaat, der sich in den Zeiten der Systemkonkurrenz so bew[per thou]hrt hat, versagt nach dem Sieg der eigenen Seite. Steht er auf der Kippe oder ist er schon gekippt? Geht es nicht der Mehrheit immer noch sehr gut, sind nicht immer noch nur Minderheiten betroffen? Gern reden wir uns das ein, hat sich doch eine Ahnung in uns erhalten [cedilla]ber einen verh[per thou]ngnisvollen Zusammenhang: Es geht vielen Leuten nur deshalb recht gut, weil es noch mehr Leute gibt, denen es recht schlecht geht.
Folgt man der EU-Definition, ist Deutschland nicht mal mehr eine Zweidrittelgesellschaft. Fast 14 Prozent der Bev[^]lkerung leiden unter Einkommensarmut von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens. 35 Prozent leben mit Niedrigeinkommen von weniger als 75 Prozent des Durchschnitts. Das hei[fl]t, die H[per thou]lfte der Bev[^]lkerung lebt in "relativer Armut", muss also jeden Cent umdrehen.
Armut steht im Widerspruch zum Verfassungsgebot, jedem B[cedilla]rger ein menschenw[cedilla]rdiges Dasein im Sinne der Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben zu erm[^]glichen. In welchem Ma[fl]e ist also die sozialstaatliche Verfassung der Bundesrepublik noch intakt?
Im Grunde geht es um die Frage, wie der arbeitende und Arbeit verwaltende, also der bestimmende Teil der Bev[^]lkerung mit dem immer gr[^][fl]er werdenden Teil umgeht, der nicht arbeiten, verwalten, also bestimmen darf. Es ist ein Verteilungskampf zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden, bei dem letztere ohne Kampfmittel dastehen. Unter der angeblich gem[cedilla]tlichen, "sozialen H[per thou]ngematte" klafft besonders f[cedilla]r Langzeitarbeitslose nur noch der Abgrund. Ein Gespenst lauert hinter der Einkommensarmut: die Chancenarmut.
Politiker, gewohnt ihren Sozialabbau als alternativlos darzustellen, zeigen wenig Neigung, sich von den B[cedilla]rgern in die angeblich enger gewordenen Verteilungsspielr[per thou]ume hineinreden zu lassen. Verschleiert wird: der Staatshaushalt geh[^]rt nicht den Staatsm[per thou]nnern. Die Staatsdiener sind nur wechselnde Verwalter des Volksverm[^]gens. Das j[per thou]hrliche Volkseinkommen ist der Haushalt des Staates.
Demokratie bedeutet auch Entscheidung [cedilla]ber Haushalte. Wenn die Demokratie nicht die Wirtschaft erfasst, ist sie keine.
Denn es gibt auch so etwas wie Chancenreichtum: Nach einer Top-100-Liste des manager magazins gab es in Deutschland im Fr[cedilla]hjahr 2001 95 DM-Milliard[per thou]re. Hinzu kommen 13000 Einkommensmillion[per thou]re, die allermeisten von ihnen sind Unternehmer, und 1,5 Millionen Verm[^]gensmillion[per thou]re. Das sind 700% mehr als Ende der 70er Jahre. Die Kinder dieses Geldadels sind an den Universit[per thou]ten und unter den aufsteigenden Eliten [cedilla]berproportional vertreten. Kariere kostet. Eigent[cedilla]mer in Deutschland besitzen inzwischen Geldverm[^]gen in H[^]he von 2,7 Billionen EUR und Immobilien im Wert von 3,8 Billionen EUR. Mit Appellen an die Solidarit[per thou]t ist da kein herankommen.
Wer an dem bestgeh[cedilla]tetem Tabu der historisch einmaligen Reichtumsexplosion in den vergangenen f[cedilla]nfzehn Jahren, also seit Untergang des Sozialismus, r[cedilla]hrt, dem wird umgehend Neid unterstellt. Dass es ein ehrenhaftes Motiv f[cedilla]r eine solche Debatte geben k[^]nnte, wird ausgeschlossen. Deshalb vorab: Reichtum ist eine Annehmlichkeit, die jedem verg[^]nnt sei, selbst wenn sie ungleich verteilt ist. Inakzeptabel wird es erst, wenn der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt, also verschuldet. Wenn beide gleicherma[fl]en wachsen. Der Reichtum wird asozial, wenn er nicht mehr nur ein moralisches, sondern ein volkswirtschaftliches Problem ist. In Deutschland w[per thou]chst der Reichtum seit Jahren deutlich schneller als die Wirtschaft. Noch schneller wachsen nur die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung. Die Steuerzahler m[cedilla]ssen aber nicht nur f[cedilla]r die enormen Zinsen aus dieser Schuld aufkommen. Sie arbeiten auch f[cedilla]r die Zinsen und Renditen der Kreditgeber und Aktienbesitzer, denen ein [cedilla]berproportionaler Anteil aus dem Volkseinkommen zuflie[fl]t. Wenn die Einkommen aus Geldverm[^]gen [cedilla]ber der allgemeinen Wirtschaftsleistung liegen, m[cedilla]ssen die Einkommen aus Arbeitsverm[^]gen zwangsl[per thou]ufig darunter liegen. Das hei[fl]t, die Arbeitenden sind an dem Ergebnis ihrer Wertsch[^]pfung immer weniger beteiligt. Das verf[cedilla]gbare Einkommen der abh[per thou]ngig Besch[per thou]ftigten ist in den letzten f[cedilla]nfzehn Jahren bestenfalls gleich geblieben, w[per thou]hrend sich die Einkommen aus Verm[^]gen verdoppelt haben. Wie konnte dies beinahe unbemerkt geschehen?
Der Zinsdruck zwingt nicht nur den Staat zum Sozialabbau. Auch die Manager, die die Gewinnerwartungen der Besitzenden erf[cedilla]llen m[cedilla]ssen, senken zu diesem Zweck die L[^]hne und investieren Subventionen und Steuergeschenke in Rationalisierung, damit sie noch mehr Leute entlassen k[^]nnen. In Zeiten derartiger Arbeitslosigkeit ist nur arbeitsloses Einkommen ein sicherer Schutz vor sozialem Abstieg. Um einen Kollaps zu vermeiden, m[cedilla]sste dem Kapital begreiflich gemacht werden, dass seine Zinsanspr[cedilla]che das Wirtschaftswachstum nicht [cedilla]berschreiten d[cedilla]rfen! Da Kapital aber nur einen Gedanken kennt, droht es mit Abwanderung und die neoliberale Politik ordnet ihr ganzes Trachten dem Zweck unter, die Renditeanspr[cedilla]che der Verm[^]genden zu garantieren.
Das Defizit liegt weniger im Konzeptionellen, als vielmehr in der demokratischen Durchsetzbarkeit dessen, was als vern[cedilla]nftig erkannt ist. Sp[per thou]testens seit Rousseau ist zumindest die Richtung klar: "Die Menschenrechte m[cedilla]ssen erg[per thou]nzt werden durch einschr[per thou]nkende Bestimmungen [cedilla]ber das Eigentum; sonst sind sie nur f[cedilla]r die Reichen da, f[cedilla]r die Schieber und B[^]rsenwucherer." Das Problem solcher Forderungen ist nicht, dass sie alt, sondern dass sie unerf[cedilla]llt sind. Doch im Zeitalter des kommerzialisierten Medienkretinismus wird es immer schwerer, Mehrheiten [cedilla]ber kapitale Lobbyinteressen aufzukl[per thou]ren und sie von der Notwendigkeit zu [cedilla]berzeugen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die meisten glauben an die marktradikalen Spekulanten wie Kinder an den Weihnachtsmann. In einer Art Duldungsstarre wird die Katastrophe durch Tr[per thou]gheit und Ignoranz selbst heraufbeschworen.
Die Arbeit des Desillusionierens kann nicht fr[cedilla]h genug beginnen: Die Demokratie braucht eine andere Wirtschaftsordnung. Genauer gesagt, die Menschen brauchen sie. Selbst die Eigent[cedilla]mer und Manager. Denn nur Fundamentalisten, stets auf der Suche nach dem d[per thou]monisch B[^]sen, [cedilla]bersehen, dass auch diese politischen Gegner hoch bezahlte Gefangene der von ihnen selbst geschaffenen strukturellen Zw[per thou]nge sind. Die Jagd nach dem shareholder value, nach der international geforderten Rendite, macht sie zu Gehetzten auf der Flucht vor feindlichen [<]bernahmen. Der Maximalprofit verlangt absoluten Gehorsam, sonst sto[fl]en einen Gehorsamere in den Abgrund.
Das k[per thou]mpferische Vokabular hat die Seiten gewechselt.
Zu Revolten und Aufst[per thou]nden, zu Boykott und aktivem Widerstand rufen wohl situierte Leute auf die Barrikaden. Neoliberale gr[cedilla]nden einen Konvent und anempfehlen den B[cedilla]rgern eines Staates, der Geld f[cedilla]r Sozialleistungen vergeudet, einen gewissen Konsumverzicht und ein Zur[cedilla]ckstecken von Anspr[cedilla]chen. Stattdessen wird unternehmerisches Handeln und eine intensivere Verm[^]gensbildung angeraten, denn: Arbeitspl[per thou]tze erfordern nun mal Kapital. Unerw[per thou]hnt bleibt all das derzeit bereits vagabundierende Kapital, dem offenbar nicht im Traum einf[per thou]llt, Arbeit zu schaffen. Industrielle wollen die Unbeweglichkeit politischer Entscheidungen flexibilisieren, also demokratische Mitsprache einschr[per thou]nken und nennen das System[cedilla]berwindung. Das hei[fl]t, das System wird sowieso grundst[cedilla]rzend ver[per thou]ndert, fragt sich nur noch wie und durch wen.
In der Demokratie ankommen hei[fl]t, gegen die Herrschaft des Geldes zu sein. [<]ber den Wechsel von der asozialen Marktwirtschaft hin zu einer gemischten oder auch sozialistischen Marktwirtschaft, jenseits des Diktats der Weltbank, liegen ungez[per thou]hlte B[cedilla]cher bereit. Sie sind vom Zeitgeist in Nischen gedr[per thou]ngt, wo sie von den entpolitisierten Mehrheiten nicht wahrgenommen werden. Ihre Autoren beschreiben eine Weltwirtschaftspolitik mit einer neuen Geldordnung, [^]kologisch nachhaltigen Preisen, einem neuen Bodenrecht, mit ehrlichen und gerechten Steuern, mit internationalen Sozialstandards, darunter eine weltweite radikale Arbeitszeitverk[cedilla]rzung, die uns der Vollbesch[per thou]ftigung n[per thou]her bringt.
Der Internationalismus war einst die St[per thou]rke der Linken. Er ist auf die Seite des Kapitals gewechselt. Fachleute aus allen L[per thou]ndern versuchen eine Umkehr zu beschreiben, durch eine Weltinnenpolitik, mit Staatengemeinschaften, die sich mehr mit Verteilungs- als mit Wachstumsfragen besch[per thou]ftigen. Dazu zitieren sie sogar Leute wie den Chef des Internationalen W[per thou]hrungsfonds, der warnt: Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilit[per thou]t weltweit. Und sie fragen, worauf wir noch warten, wenn selbst der Economist, das Hausblatt der Finanzwelt, die Verteilungsfrage auf die Weltagenda setzt.
[<]brigens:
Solange im Bundeshaushalt dreimal mehr Mittel f[cedilla]r R[cedilla]stung als f[cedilla]r Bildung und Forschung vorgesehen sind, scheint es mir auch um die Investitionen in die Zukunftsf[per thou]higkeit schlecht zu stehen. Eine [^]ffentliche Rechenschaftspflicht der Regierung [cedilla]ber die unausweichliche Notwendigkeit der Verwendung von Steuermitteln f[cedilla]r Kriegsger[per thou]t und Angriffsf[per thou]higkeit w[per thou]re l[per thou]ngst f[per thou]llig. Solange dies nicht geschieht, wird die berechtigte Behauptung, hier l[per thou]gen erhebliche staatliche Finanzreserven, nicht zu widerlegen sein.
[WDR 3, Resonanzen]
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12:04:44 AM
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