letzte Änderung: 01.11.04; 18:05:07.
Kunstspaziergänge
Spaziergänge in Berlin und Umgebung
        

Sonntag, 10. Oktober 2004

Überblicksschau der Pariser Konzeptkünstlerin Sophie Calle im Martin-Gropius-Bau

Ein roter Schuh liegt auf dem hellen Teppich, der Absatz nicht sehr hoch, doch hoch genug, um dem Fuß und dem Bein, das man sich dazu denkt, eine schöne Form zu geben. Der umgekippte Teekessel, die tote Katze stören das imaginierte Bild, machen es zum Tatort.
Was könnte passiert sein? Wo ist der andere Schuh, wo seine Trägerin, möglicherweise auch die des langen weißen Nachthemds auf dem Bett? Wem gehören die Schreibmaschine und der Bademantel? Rätselhaft ist die Ansammlung von Hotelbetten und Kleidern. Und reichlicher Fantasie bedürfen im nächsten Raum Unmengen von Fotos schlafender Menschen. Danach sehen wir rote Telefone auf weißen Hotelbettlaken und gestickte Texte unter Glas. Später einen Film und Fotos von Händen, die immerfort Scheine aus einem Geldautomaten ziehen. Aber es gibt nichts, das uns Werktitel wie Erlesener Schmerz oder Unvollendet nur annähernd erklären würde. Alles, was sich nur mit Schweigen sagen lässt - der Satz, den Calle an die Museumswand schreiben ließ, stammt von einem Philosophen. Hinter den schwer deutbaren Bilderreihungen indes steckt eine Detektivin des prosaischen Alltags. Ihn verfolgt sie, ihn sucht sie mit ihren Arbeiten zu strukturieren und deshalb alles über ihn zu sammeln.
(... weiter hier)

Die Spionin - Ein Interview mit Sophie Calle
(das ganze Interview: hier)

Die Geburtstagszeremonie war nicht fürs Museum gedacht. Anlass war ein echtes Trauma - die Angst, an meinem Geburtstag vergessen zu werden. Ich habe mein Leben lang alle möglichen Rituale erfunden, um mich vor diesem Tag zu schützen, vor dem ich solche Angst hatte, dass mir die schlimmsten Sachen passierten. Ich bin zum Beispiel dreimal von Männern an meinem Geburtstag verlassen worden. Also habe ich versucht, mir etwas einfallen zu lassen, um meine Angst in den Griff zu bekommen. Schließlich kam mir der sehr simple Gedanke, an jedem Geburtstag ein Essen zu geben, zu dem ich so viele Leute einladen wollte, wie ich an Lebensjahren zählte. Und dann hatte ich noch die Idee, alle Geschenke aufzubewahren als Beweise von Liebe und Zuneigung.
Also keine Pralinen essen, keine Bilder an die Wand hängen, keine Bücher lesen und so weiter.
Richtig. Wenn man Ihnen ein paar Schuhe schenkt, tragen Sie die, und zwei Jahre später werfen Sie sie weg, weil sie abgenutzt sind und Sie vergessen haben, dass sie mal ein Geburtstagsgeschenk waren - es sind Schuhe geworden, das ist alles. Ich dachte, wenn ich die Geschenke nicht benutze, würden sich Spuren von Liebe und Zuneigung erhalten. Also habe ich alles aufgehoben, wie eine Art Schutzsystem, aber nicht mit der Absicht, ein Kunstwerk daraus zu machen. Als ich vierzig wurde, war mein Leben ausgeglichener, glücklicher. Da wirkte die Geburtstagszeremonie nur noch aufgesetzt. Ich beschloss, damit aufzuhören. Ich wollte die Geschenke fotografieren, um eine Erinnerung von dem zu bewahren, was sie mal waren, bevor ich sie an die Wand hängen, benutzen, ja, zerstören würde. Aber an diesem Tag entschied ich mich dafür, sie in Schaukästen auszustellen.


Paul Auster
Leviathan

The author extends special thanks to Sophie Calle for permission to mingle fact with fiction.

Maria was an artist, but the work she did had nothing to do with creating objects commonly defined as art. Some people called her a photographer, others referred to her as a conceptualist, still others considered her a writer, but none of these descriptions was accurate, and in the end I don't think she can be pigeonholed in any way. Her work was too nutty for that, too idiosyncratic, too personal to be thought of as belonging to any particular medium or discipline. Ideas would take hold of her, she would work on projects, there would be concrete results that could be shown in galleries, but this activity didn't stem from a desire to make art so much as from a need to indulge her obsessions, to live her life precisely as she wanted to live it. Living always came first, and a number of her most time-consuming projects were done strictly for herself and never shown to anyone.


Die hohe Kunst der Neurose

(Sophie Calles) große Stunde schlägt 1994, als ein anderer Spezialist urbaner Identitätskrisen, der New Yorker Literat Paul Auster, in seinem Roman Leviathan eine fiktive Figur namens Maria sieben Arbeiten von Calle nachleben lässt. Zwei weitere erfindet der Schriftsteller selbst. Woraufhin die real existierende Künstlerin sich von ihm eine Art Gebrauchsanleitung für ihr Verhalten in New York verfassen lässt. Später lebt sie die von Paul Auster für ihr literarisches Abbild erfundenen zwei Arbeiten, darunter eine täglich wechselnde Farbdiät, eine Woche lang nach. Angeblich. Der fiktive Faktor in Calles Kunst wird künstlicher, das Nachstellen findet vor allem für Glamour-Fotografen statt. Kunst wurde Literatur, die wieder zu Kunst werden soll – heraus aber kommt Kommerz. Sophie Calle ist zum ersten Mal der Selbstinszenierung in die Falle gegangen.
(mehr in der Zeit)


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