letzte Änderung: 01.11.06; 21:24:37.
Kunstspaziergänge
Spaziergänge in Berlin und Umgebung
        

Samstag, 14. Oktober 2006

Die Bonbons und der Tod (S. Preuss in der Berliner Zeitung)

Wo Menschen in Scharen mit Posterrollen aus dem Museum treten, da ist Felix-Gonzalez-Torres nicht weit. Die Papierstapel sind sein Markenzeichen geworden, ebenso wie die glitzernden Bonbonberge und die Lichterketten aus einfachen Glühbirnen. Plakate und die Süßigkeiten darf man mitnehmen, das Museum muss für endlosen Nachschub sorgen. Die Besucher "partizipieren" an der Kunst, wie es im Theoretikerjargon so schön heißt. Das mag banal klingen, ist es aber nicht. Denn Gonzalez-Torres, der 1996, erst 38-jährig, an Aids starb, hat mit einfachen Mitteln Kunstwerke geschaffen, deren universale Deutungsmöglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Vom Museum in den Mund (N. Büsing und H. Klaas im Spiegel)

Felix Gonzalez-Torres im Hamburger Bahnhof

Untitled (USA Today), 1990
Bonbons einzeln in rotem, silbernen und blauem Zellophanpapier verpackt, endloser Vorrat

Für alle "candies" ist das Angebot an den Rezipienten, sich ein Bonbon zu nehmen, elementar und daher im von Gonzalez-Torres verfasster Echtheitszertifikat schriftlich festgelegt. Ein Betrachter kann durch den Verzehr der Bonbons das Werkgewicht verringern, potentiell sogar auflösen. Die Entnahme der Bonbons führt jedoch zu keiner grundsätzlichen Änderung der Werkform, zumal diese jederzeit wieder herstellbar ist. Insofern ist das Spiel mit der möglichen Auflösung des Werks seine gewissermaßen kokette Pointe. Aufgehoben wird zwar kurzfristig das Berührungsverbot eines Kunstwerks; aufgehoben - im Sinne von bewahrt werden - soll jedoch dessen Erscheinungsform. Die Möglichkeit die Bonbons zu ersetzen, lässt indes keine direkt an biologischer Körperlichkeit orientierte Übertragung zu, im Gegenteil: Ersetzbarkeit und "endless supply" sind Merkmale massenproduzierter Ware. Für diejenigen Bonbons, die in Umlauf gebracht worden sind, kann formal die Urheberschaft nicht mehr gesichert werden, da sie sich durch nichts von anderen käuflichen Bonbons unterscheiden. Einzelne Bonbors können demzufolge nicht den Rang eines Einzelkunstwerks annehmen fallen also, einmal der Arbeit entnommen, auf ihren reinen Gebrauchswert zurück (Heike-Karin Föll im Katalog).
Und wir glaubten ein Kunstwerk vernascht zu haben, zumindest partiell.
Das Berührungsverbot ist nicht nur bei den Bonbonschüttungen ("candy pieces") aufgehoben, sondern auch bei den Plakatstapeln, den "stacks". Das mussten wir einem der strengen Wächter aber erst klarmachen, nachdem er mich angeherrscht hatte "Nicht anfassen!!!", als ich eines der Blätter mitnehmen wollte. Das gab es in seiner langen Berufserfahrung noch nicht: Ausstellungsstücke, die man berühren und sogar mit nach Hause nehmen kann.

Lampen

[Gonzales-Torres eröffnet] Spielräume für den Werkbesitzer und die Rezipienten. Das wird offenkundig, wenn man bedenkt, wie weit diese Spielräume sind. Bei den (meisten) "light string"-Arbeiten z.B. (Kabel mit einer festgelegten Anzahl von Glühbirnen, die in gleichbleibenden Abständen in weißen Porzellanhalterungen angebracht sind) hat der Besitzer das Recht, sie in jeder nur denkbaren Form und Konfiguration zu präsentieren. Der ästhetische Gestus, der darin jeweils zum Tragen kommt, ist also derjenige des Besitzers, nicht des Künstlers, auch wenn der Betrachter das ohne zusätzliche Information nicht weiß. Es gehört zu Gonzalez-Torres Ästhetik, bestimmte ästhetische Entscheidungen dem Besitzer zu überlassen. So hat dieser auch die Möglichkeit, dem Werk Informationen zu entziehen oder ihm neue Informationen hinzuzufügen, d.h. seinen Bestand zu verändern. Das konkrete ästhetische Angebot verdankt sich einer Überdetermination,deren Spielraum vom Künstler festgelegt wurde; man könnte auch sagen: deren Spielraum das Werk ist (Gregor Stemmrich im Katalog).


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