letzte Änderung: 01.03.04; 20:45:14.
Kunstspaziergänge
Spaziergänge in Berlin und Umgebung
        

Mittwoch, 11. Februar 2004

Engelsscharen
Mit besseren Augen sähen wir sie überall. Zuhauf auf Dächern und Firsten, oder in Regenrinnen gelagert, wartend auf etwas, was nie kommt. Aus jedem Schrank, kaum geöffnet, fallen sie uns schon entgegen, ohne daß wir ihnen mit Schreck oder Betroffenheit begegneten: Höchstens weht ein Hauch, ein unerwarteter Luftzug uns an, ein Duft von Mottenpulver, von Staub. Aus jedem aufgeklappten Buch purzeln sie scharenweise heraus und uns zu Füßen, ihrer papiernen Heimat Vertriebene. Die allem Irdischen noch nicht ganz Entwöhnten umkreisen die Töpfe auf dem Herd, an den Gerüchen, welche einstmals ihre eigene Leiblichkeit zum Erhalt derselben angeregt, sich melancholisch zu ergötzen. Schon wer einen Schlüssel ins Schloß steckt, sollte sich fragen, ob er nicht dadurch einen Engel aus seinem Ruheplätzchen stößt. Wo sie doch so gänzlich wehrlos und nur bei uns sind, weil ihr eigentliches Refugium überfüllt ist. Sie müssen in Telefondrähten hausen, wo sie unsere Gespräche behindern; wo sie mit verstellter Stimme eine Amtsperson nachahmen oder ein Zeitzeichen. Sie verstopfen die Briefkästen, so daß die nur unvollkommen geleert werden können, um späterhin Unterschlupf in den ledernen Bauchtaschen der Briefträger zu finden und mit jenen, die nur am wachsenden Gewicht merken, etwas ist nicht in Ordnung, die Treppen hinauf- und hinunterzuschwanken.
In gewissen alten Treppenhäusern ist ihre Ansammlung derart dicht, daß sie sich durch bestimmte Gerüche bemerkbar macht; eine Ähnlichkeit mit Kohl oder Moder ist nicht zu leugnen. Vor frischer Luft, vor Luftzug, ziehen sie sich in geschützte Winkel zurück, damit sie nicht weggeweht werden. Sonst verhalten sie sich meist still. Sie fürchten nichts als ihre eigene, ständig wachsende Zahl: Was, wenn sie keinen Platz mehr finden und gezwungen sind, ineinander zu wohnen und zu leben? Der Tag ist abzusehen, wo ihre nicht mehr schätzbare Menge die Qualität der Sichtbarkeit annimmt und ihre Masse eine dicke Schicht Gallerte bildet, die die ganze Erde bedeckt, von Pol zu Pol, von den Stätten der Zivilisation, den Städten, bis zu den unter ihnen verkümmernden Urwäldern, herkünftig aus unseren innigsten Himmeln.
(Günter Kunert in: Der Mittelpunkt der Erde, Eulenspiegelverlag, Berlin 1977)


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Skulpturen in Buch (10)


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