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Freitag, 20. Mai 2005 |
Schriftenuntergrund
Bei meinem Berlinbesuch habe ich mehr Zeit in der U-Bahn als in allen anderen Kultureinrichtungen verbracht. Ich war überrascht zu sehen, wie viele Menschen im Zug lesen, häufiger sogar Bücher als Zeitungen. Als Fremder, der deutschen Sprache nicht mächtig, las ich einen andern Text, einen Text ohne Sinn und Verstand: Ich meine die Graffiti. Mir scheint, dass keine andere Stadt in der Welt so gründlich, in alle Richtungen und mit einem solch außerordentlichen Fleiß "beschrieben" ist: Durch das Fenster der U-Bahn tut sich ein unterirdischer, zur Stadt gehörender Schriftsatz auf; er bildet eine kontinuierliche Erzählung bestehend aus Hunderttausenden von Namen, Unterschriften, Buchstaben, Geheimschriften und Codes.
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Das Wesen der Graffiti ist nicht ideologisch, es liegt in der magischen Manipulation der Schrift: Wie der "Golem", der sich gegen seinen Schöpfer erhebt, führt sie die Stadt zu ihrer Stofflichkeit zurückführt. Yonatan Levy war als Gast der Heinrich-Böll-Stiftung und des Goethe-Instituts zwei Wochen als Stadtschreiber in Berlin.
6:34:18 PM
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