letzte Änderung: 01.04.07; 18:19:14.
Kunstspaziergänge
Spaziergänge in Berlin und Umgebung
        

Sonntag, 11. März 2007

Kunstspaziergänge in Wien (4)

Riesenrad

Wortvoll war vier Tage in Wien, hier der Praterbesuch:

Nun aber auf zum Prater, ich will auf den Spuren des kleinen Elias Canetti wandeln, der in Die gerettete Zunge so denkwürdig von seinen Kindheitserlebnissen dieses Ortes berichtet.
Es hätten mich die Menschenmassen in der U-Bahn schon aufmerksam machen müssen ... Und diese Massen steigen am Praterstern auch aus, dabei ist doch schon halb 6? Während links ein Betrunkener gröhlt, dort vorne eine alte Frau geräuschvoll in ein zerfetztes Tuch kuddelt und überall auffällig unauffällige Menschen aufmerksam desinteressiert um sich blicken, erhasche ich den ersten Blick auf´s Riesenrad. Die Richtung stimmt, doch sonst stimmt nichts.
Ich erinnere mich gut, was ich erwartet habe, doch dies Zeugnis fast schon peinlicher Naivität werde ich öffentlich nicht preisgeben. Warum nur hat mir niemand gesagt, daß der Prater ein ganz normales Volksfest ist? (Weil du niemanden gefragt hast, weil du alles ganz alleine entdecken wolltest, ohne vorherige Information - Ja, ich weiß).
Wie trunken von all dem Lärm, den Farben und dem Blinkern wanke ich über das Gelände, nein, das hier ist nichts für mich, nur die Grottenbahn will ich sehen und das ist wirklich ein Wunder, ich finde sie rasch, jedenfalls glaube ich, nachdem mir die Kassiererin, noch eine nette Wienerin, erzählte, daß diese Bahn seit 104 Jahren auf dem Prater zu finden ist.
Canetti schrieb: Draussen vor der Grottenbahn, bevor die Fahrt begann, gab es das Maul der Hölle. Es öffnete sich rot und riesig und zeigte seine Zähne. Kleine Teufel steckten Menschen, die sie an Gabeln aufgespießt hatten, in dieses Maul, das sich langsam und unerbittlich schloß. Aber es öffnete sich wieder, es war unersättlich, nie war es müde, nie hatte es genug, es war, wie Fanny, das Kindermädchen, sagte, Platz in der Hölle, um die ganze Stadt Wien und und alle ihre Menschen zu verschlingen. Und vor dieser Bahn stehe ich nun und fühle mich erhaben inmitten des Trubels.
Zeit zum Flüchten, ebensowenig wie mit dem Prater kann ich mit den Angeboten diverser Menschen etwas anfangen, nein danke, ich will weder Drogen noch jemanden fürs Bett. Allerdings frage ich mich gerade beim Betrachten der Bilder, was sich hinter dem Zitat von Ingeborg Bachmann wohl verstecken mag.
Mittlerweile steige ich ohne zu überlegen in die richtigen U-Bahnen, lass mich zur Innenstadt fahren, esse eine Kleinigkeit und finde anschließend noch ein schönes Lokal, das Alt-Wien, von außen so unscheinbar, drinnen sehr angenehm, hier schrieb ich einen Großteil dieses Textes und nach weiteren Gassen rauf - Gassen runter fahre ich zum Hotel. Morgen ist Sonntag und ich muss zurück. Ich möchte nicht zurück. Möchte hierbleiben, weiter laufen, immer weiter laufen und schauen und irgendwann mit der Stadt verschmelzen, mich auflösen in ihr und vergehen.
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Große Landschaft bei Wien
Ingeborg Bachmann

Durch Staub und Wolkenspreu
Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stroms,
zu unsrem Ende gerufen, haltet nicht vor der Stadt!
Nehmt auch mit euch, was vom Wein überhing
Auf brüchigen Rändern, und führt an ein Rinnsal,
wen nach Ausweg verlangt, und öffnet die Steppen!

Drüben verkümmert das nackte Gelenk eines Baums,
ein Schwungrad springt ein, aus dem Feld schlagen
die Bohrtürme den Frühling, Statuenwäldern weicht
der verworfene Torso des Grüns, und es wacht
die Iris des öls über den Brunnen im Land.

Was liegt daran? Wir spielen die Tänze nicht mehr.
Nach langer Pause: Dissonanzen gelichtet, wenig cantabile.
(Und ihren Atem spür ich nicht mehr auf den Wangen!)
Still stehn die Räder. Durch Staub und Wolkenspreu
schleift den Mantel, der unsre Liebe deckte, das Riesenrad.

5:22:02 PM    comment []

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