Die Belebung der toten Winkel
In der Fremdheit der neuen Stadt liegt der Reiz einer nicht mehr disziplinierbaren Entropie. Von vielen Bewohnern und Besuchern wird deren Kippreiz ins Anarchische als attraktiv empfunden. Denn eine neuzeitliche Metropole bestimmt sich nicht mehr durch ein gepflegtes, strukturiertes, eingängiges Stadtbild, sondern durch die Unübersichtlichkeit dessen, was von innen und außen in sie einströmt und durch das erst jenes Dickicht entsteht, das von Menschen dann als metropolenartig erlebt wird. Je mehr ungebändigte Energie in die Stadt eindringt, desto eher bilden sich irritierende Strömungsmomente, die von ihren Bewohnern als Stimulantien benötigt werden. Es entstehen dann vernachlässigte Teilterritorien an Stadträndern (wo dann, zum Beispiel, Autorennen stattfinden), die praktisch uneinsehbar und oft auch unregierbar geworden sind; es sind Restwelten von verschwundenen Originalen, Schatten von etwas, die von so erlebnisarmen wie erlebnishungrigen Menschen mit ihren eigenen Projektionen neu aufgefüllt werden. Denn es gibt den Genuß der Beschädigung, ein Behagen im Dschungel. In den teilweise apart zurechtgemachten Verwüstungen sind Streuner unterwegs, die sich angezogen fühlen vom Durcheinander der verwischten Bilder und der undeutlichen Reize.
(aus der 5. Frankfurter Poetikvorlesung von W. Genazino)
6:49:50 PM
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