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Sonntag, 3. Dezember 2006 |
Danach war mir sehr nach Musik. Ich schob die Kassette mit den ganzen Aufnahmen von diesem M.S.-Septett rein und fing an mich zu bewegen. Zuerst langsam. Ich wußte, daß ich Zeit hatte. Das Band lief gute fünfzig Minuten. Ich hatte fast alles von diesen Jungs. Sie spielten, daß man kaputtging. Ich konnte nicht besonders gut tanzen, jedenfalls nicht öffentlich. Ich meine: Dreimal so gut wie jeder andere konnte ich es immer noch. Aber richtig warm wurde ich nur in meinen vier Wänden. Draußen störten mich die ewigen Tanzpausen. ... Diese Musik muß pausenlos gespielt werden, meinethalben mit zwei Bands. Sonst kann sich kein Mensch in seine richtige Form steigern. ... Bloß, wo gab es zwei solche Bands wie das M.S.-Septett? Man mußte froh sein, daß es die Jungs überhaupt gab. ... Ich hatte mir fast den halben Arsch aufgerissen, um alle Aufnahmen von den Jungs aufzutreiben. Die gingen ungeheuer los. Eine Viertelstunde und ich war echt high, das zweitemal in kurzer Zeit. Sonst hatte ich das höchstens einmal im Jahr geschafft. Ich wußte langsam, daß es genau richtig war für mich, nach Berlin zu gehen. ... Leute, war ich high! Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich euch alle eingeladen. Ich hatte für mindestens dreihundertsechzig Minuten Musik in den Kassetten. ... Und wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir in den Eisenbahner gegangen oder noch besser in die Große Melodie, wo die M.S.-Jungs spielten oder SOK oder Petrowski, Old Lenz, je nachdem, wer gerade dran war. Montag war immer fester Tag. Oder denkt vielleicht einer, ich wußte nicht, wo man in Berlin hingehen mußte wegen echter Musik? Nach einer Woche wußte ich das. Ich glaube nicht, daß es viele Sachen in Berlin gegeben hat, die ich versäumt habe. Ich war wie in einem Strom von Musik. Vielleicht versteht mich einer. Ich war doch wie ausgehungert, Leute! ... Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt. Ich glaube, sie ist nicht schlechter als Ella Fitzgerald oder eine. Sie hätte alles von mir haben können, wenn sie da vorn stand mit ihrer großen Brille und sich langsam in die Truppe einsang. Wie sie sich mit dem Chef verständigte ohne einen Blick, das konnte nur Seelenwanderung sein. Und wie sie sich mit einem Blick bedankte, wenn er sie einsteigen ließ! Ich hätte jedesmal heulen können. Er hielt sie so lange zurück, bis sie es fast nicht mehr aushalten konnte, und dann ließ er sie einsteigen, und sie bedankte sich durch ein Lächeln, und ich wurde fast nicht wieder. Kann auch sein, es war alles ganz anders mit Lenz. Trotzdem, die Große Melodie, das war eine Art Paradies für mich, ein Himmel. Ich glaube nicht, daß ich in der Zeit von viel was anderem gelebt habe als von Musik und Milch. (aus: Ulrich Plenzdorf Die neuen Leiden des jungen W., Hinstorff 1973)
Ja, so war das mit der Musik im Osten Berlins. Und so sieht der Eisenbahner heute aus. Die Große Melodie war im alten Friedrichstadtplalast und der wurde 1980 wegen maroder Bausubstanz geschlossen und in den folgenden Jahren abgerissen.
5:52:28 PM
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