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Dienstag, 5. Dezember 2006 |
Lob des Spaziergangs
(So viel Text gibt es in den Kunstspaziergängen nicht oft.
Aber das Walsersche Lob des Spaziergangs gehört hierher.
Wohin sonst.)
»Spazieren«, gab ich zur Antwort, »muß ich unbedingt, damit ich mich belebe und die Verbindung mit der Welt aufrechterhalte, ohne deren Empfinden ich weder einen halben Buchstaben mehr schreiben, noch ein Gedicht in Vers oder Prosa hervorbringen könnte. Ohne Spazieren wäre ich tot, und meinen Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, hätte ich längst preisgeben müssen. Ohne Spazieren und Bericht-Auffangen vermöchte ich nicht den leisesten Bericht abzustatten, ebensowenig einen Aufsatz, geschweige denn eine Novelle zu verfassen. Ohne Spazieren würde ich weder Studien noch Beobachtungen sammeln können. Ein so gescheiter, aufgeweckter Mann wie Sie wird dies augenblicklich begreifen.
Auf weitschweifigem Spaziergang fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein, während ich zu Hause eingeschlossen jämmerlich verdorren, vertrocknen würde. Spazieren ist für mich nicht nur gesund, sondern auch dienlich, und nicht nur schön, sondern auch nützlich. Ein Spaziergang fördert mich beruflich, macht mir aber zugleich auch persönlich Spaß; er tröstet, freut, erquickt mich, ist mir ein Genuß, hat aber zugleich die Eigenschaft, daß er mich spornt und zu fernerem Schaffen reizt, indem er mir zahlreiche mehr oder minder bedeutende Gegenständlichkeiten darbietet, die ich später zu Hause eifrig bearbeiten kann. Jeder Spaziergang ist voll von sehenswerten, fühlenswerten Erscheinungen. Von Gebilden, lebendigen Gedichten, anziehenden Dingen, Naturschönheiten wimmelt es ja meistens förmlich auf netten Spaziergängen, mögen sie noch so klein sein. Natur- und Landeskunde öffnen sich reiz- und anmutvoll vor den Sinnen und Augen des aufmerksamen Spaziergängers, der freilich nicht mit niedergeschlagenen, sondern mit offenen, ungetrübten Augen spazieren muß, falls er den Wunsch hat, daß ihm der schöne Sinn und der weite, edle Gedanke des Spazierganges aufgehen sollen.
Bedenken Sie, wie der Dichter verarmen und kläglich scheitern müßte, wenn nicht die mütterliche, väterliche, kindliche Natur ihn immer wieder von neuem mit dem Quell des Guten und Schönen bekannt machen würde. Bedenken Sie, wie für den Dichter der Unterricht und die heilige, goldene Belehrung, die er draußen im spielenden Freien schöpft, immer wieder von allergrößter Bedeutung sind. Ohne Spazieren und damit verbundene Naturanschauung, ohne diese ebenso liebliche wie lehrreiche, ebenso erfrischende wie beständig mahnende Erkundigung fühle ich mich wie verloren und bin es in der Tat. Höchst aufmerksam und liebevoll muß der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, ein Baum, eine Hecke, eine Schnecke, eine Maus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein ärmliches, weggeworfenes Fetzchen Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes, gutes Schulkind seine ersten, ungefügen Buchstaben hingeschrieben hat, studieren und betrachten.
Die höchsten und niedrigsten, ernstesten wie lustigsten Dinge sind ihm gleicherweise lieb und schön und wert. Keinerlei empfindsamliche Eigenliebe darf er mit sich tragen, vielmehr muß er seinen sorgsamen Blick uneigennützig, unegoistisch überallhin schweifen, herumstreifen lassen, ganz nur im Anschauen und Merken aufzugehen fähig sein, dagegen sich selber, seine eigenen Klagen, Bedürfnisse, Mängel, Entbehrungen gleich wackerem, dienstbereiten, aufopferungsfreudigen, erprobten Feldsoldaten hintanzustellen, gering zu achten oder völlig zu vergessen wissen.
Andernfalls spaziert er nur mit halbem Geist, was kaum viel wert ist.
Des Mitleidens, Mitempfindens und der Begeisterung muß er jederzeit fähig sein, und hoffentlich ist er es. Er muß sich in den Enthusiasmus hinaufzuschwingen, sich aber ebenso leicht in die kleinste Alltäglichkeit herabzuneigen vermögen, und vermutlich kann er es. Treues, hingebungsvolles Sichverlieren und Hineinfinden in die Dinge und fleißige Liebe zu allen Erscheinungen machen ihn aber auch glücklich, wie jede Pflichterfüllung den Pflichtbewußten reich und glücklich im Innersten macht. Geist und Hingabe beseligen ihn, heben ihn hoch über die eigene Spaziergänger-Person hinaus, die oft genug im Geruch unnützen, zeitvergeudenden Vagabundierens steht. Mannigfaltige Studien bereichern, belustigen, besänftigen und veredeln ihn, und was er emsig treibt, mag mitunter hart an exakte Wissenschaft streifen, die dem scheinbar leichtfertigen Bummler niemand zutraut.
Wissen Sie, daß ich hartnäckig und zäh im Kopf arbeite und oft vielleicht im besten Sinne tätig bin, wo es den Anschein hat, als ob ich ein gedankenlos wie arbeitslos im Blauen oder Grünen mich verlierender, saumseliger, träumerischer, träger, schlechten Eindruck weckender Erztagedieb und Mensch ohne Verantwortung sei?
Geheimnisvoll schleichen dem Spaziergänger allerlei Einfälle und Ideen nach, derart, daß er mitten im fleißigen, achtsamen Gehen stillstehen und horchen muß, weil er, über und über von seltsamen Eindrücken, Geister-Gewalt benommen, plötzlich das bezaubernde Gefühl hat, als sinke er in die Erde hinab, indem sich vor den geblendeten, verirrten Denker und Dichteraugen ein Abgrund öffne. Der Kopf will ihm abfallen. Die sonst so lebhaften Arme und Beine sind wie erstarrt. Land und Leute, Töne und Farben, Gesichter und Gestalten, Wolken und Sonnenschein drehen sich wie Scheinen rund um ihn herum; er fragt sich: Wo bin ich?
Erde und Himmel fließen und stürzen in ein blitzend übereinanderwogendes, undeutlich schimmerndes Nebelbild zusammen. Das Chaos beginnt und die Ordnungen verschwinden. Mühsam sucht der Erschütterte seine Besinnung aufrechtzuhalten; es gelingt ihm. Später spaziert er vertrauensvoll weiter.
Halten Sie es für ganz und gar unmöglich, daß ich auf solcherlei geduldigem Spaziergang Riesen antreffe, Professoren die Ehre habe zu sehen, mit Buchhändlern und Bankbeamten im Vorbeigehen verkehre, mit Sängerinnen und Schauspielerinnen rede, bei geistreichen Damen zu Mittag speise, durch Wälder streife, gefährliche Briefe befördere und mich mit tückischen, ironischen Schneidermeistern wild herumschlage? Dies alles kann immerhin vorkommen, und ich glaube, daß es in der Tat vorgekommen ist.
Den Spaziergänger begleitet stets etwas Merkwürdiges, Phantastisches, und er wäre töricht, wenn er dieses Geistige unbeachtet lassen wollte; doch das tut er keinesfalls, vielmehr heißt er alle eigentümlichen Erscheinungen herzlich willkommen, befreundet, verbrüdert sich mit ihnen, macht sie zu gestaltenhaften, wesenreichen Körpern, gibt ihnen Seele und Bildung, wie sie ihrerseits auch ihn beseelen und bilden.
Kurz und gut: Ich verdiene mein tägliches Brot durch Denken, Grübeln, Bohren, Graben, Sinnen, Dichten, Forschen, Untersuchen und Spazieren so sauer wie irgendeiner. Indem ich vielleicht die allervergnügteste Miene schneide, bin ich höchst ernsthaft und gewissenhaft, und wo ich weiter nichts als schwärmerisch und zärtlich zu sein scheine, bin ich ein solider Fachmann. Darf ich hoffen, Sie durch dargebrachte eingehende Aufklärung von offenbar ehrlichem Streben vollauf überzeugt zu haben?«
(aus: Robert Walser Der Spaziergang Bibliothek Suhrkamp, 1. Auflage 1978)
8:40:08 PM
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